«Fit für die Gerechtigkeit in KMU»
Ein wichtiges, aber zu wenig diskutiertes Thema in Klein- und Mittelunternehmen (KMU) ist «Gerechtigkeit». Der achte Band in der «Fit für …»-Reihe der Organisatoren des Schweizer KMU-Tags gibt daher diesmal dazu Impulse für den KMU-Alltag und stellt kritische Fragen an Führungskräfte.
Das Autoren-Quartett – Urs Fueglistaller, Roger Tinner, Walter Weber und Tobias Wolf sind sich einig: «Es geht in diesem Buch im Kern um die Frage, wie wir allen unseren Anspruchsgruppen in Klein- und Mittelunternehmen «gerecht» werden können: den Kundinnen und Kunden, den Mitarbeitenden, den Inhaberinnen und Inhabern bzw. Aktionär(inn)en, den Mitbewerbern, dem Staat, der Öffentlichkeit, der Familie»
Dieser bereits achte Band der Reihe bringt – wie gewohnt kompakt und lesefreundlich – 7×3 Fragen und Antworten zu «Fairness und Wahrnehmung von Gerechtigkeit in KMU». Der Ratgeber gibt Tipps, sich der Gerechtigkeit im unternehmerischen Alltag zu nähern und stellt kritische Fragen an KMU-Führungskräfte, die ihre eigenen Haltungen und Handlungen damit überprüfen und vergleichen können.
«Gerechtigkeit», so die Hauptthese der Autoren, spielt in Klein- und Mittelunternehmen von ihrer Gründung bis zur Nachfolgeregelung eine zentrale Rolle. Bewusst diskutiert und reflektiert wird das Thema (noch und leider) zuwenig. Dabei geht es nicht darum, dass die Leserinnen und Leser am Ende genau wissen, was Gerechtigkeit ist (die Autoren wissen es auch nicht). Vielmehr wollen sie jene Fragen stellen, die es den KMU-Chefinnen und -Chefs im Alltag leichter machen, sich und anderen fairer zu werden.
«Fit für die Gerechtigkeit in KMU» bestärkt Unternehmerinnen und Unternehmern, das abstrakt wirkende, aber sehr konkrete Gerechtigkeitsthema im Alltag mehr einzubringen. Das Buch «Fit für Gerechtigkeit in KMU – 7×3 Fragen und Antworten zu Fairness und Verantwortung in KMU» erscheint im KMU Verlag HSG und kann unter www.kmu-tag.ch/buchbestellung bestellt werden.
Gerechtigkeit in KMU – Fallbeispiele und Fragen
Sie finden hier – ohne Antworten (die müssen ja Sie für sich selbst und Ihr Unternehmen finden!) – einige Fallbeispiele, Situationen und eine Reihe von Fragen, die sich im (KMU-)Alltag in Sachen Gerechtigkeit stellen können.
Fallbeispiel 1
Michael und Norman sind seit Juli 2017 gleichberechtigte Eigentümer einer Zahnarztpraxis.
Michael hat im Januar 2018 eine Familie gegründet, weshalb bei ihm aktuell ein gewisser Freizeitanteil im Vordergrund steht. Sein Beitrag zum Gesamtpensum der anfallenden Arbeit gegenüber Norman ist aktuell nicht ausgeglichen. Lange hat dies Norman akzeptiert. Mittlerweile ist es April und langsam fühlt sich Norman durch seinen Partner ungerecht behandelt. Er möchte die Gewinnverwendung der GmbH diskutieren. Wie würden Sie beurteilen?
- Beide sollen weiterhin den gleichen Gewinnanteil erhalten.
- Norman leistet mehr für die Praxis, also soll er auch den höheren Anteil am Gewinn erhalten.
- Michael soll mehr vom Gewinn erhalten, er hat ja nun auch höhere Ausgaben aufgrund der Familiengründung.
Fallbeispiel 2
Laura (42) und Eva (28) sind beide Projektleiterinnen in einem Ostschweizer Kleinunternehmen. Laura ist schon seit 10 Jahren in der Firma, Eva erst seit 3 Jahren. Laura verdient knapp 30 Prozent mehr als Eva. Aufgrund der jährlichen Auswertung fällt der Chefin aber auf, dass Eva deutlich mehr Geld für das Unternehmen erwirtschaftet hat. Zudem hat sie auch noch Teamanlässe organisiert. Eva hat sich jedoch nicht über ihren Lohn beschwert. Was würden Sie als Chefin machen?
- Nichts, ich überlege mir eine Lösung für den Fall, dass Eva sich beschwert.
- Ich erhöhe den Lohn von Eva, jedoch nicht um 30 Prozent.
- Ich biete Eva den gleichen Lohn an wie Laura.
- Ich kürze Lauras Lohn um 15 Prozent und erhöhe Evas Lohn um 15 Prozent.
Fallbeispiel 3: Übergabe nach Leistung (Führung & Eigentum) *
Die Übergeberin eines Textilunternehmens hat zwei Töchter. Lara hat einen betriebswirtschaftlichen Abschluss und zudem eine Weiterbildung an der Textilfachschule absolviert, sie arbeitet seit fünf Jahren mit grossem Einsatz im Unternehmen. Sabine hat eine kaufmännische Ausbildung und ist in der Buchhaltung der Firma angestellt. Sie ist interessiert am Geschäft, jedoch fehlen ihr die Eigenschaften, dieses weiterzuentwickeln. Die Übergeberin entscheidet sich daher dafür, Lara das Management am Unternehmen zu übergeben. Weiter übergibt sie ihr einige Jahre nach dem Management auch 100 % des Eigentums. Hier liegt eine Übergabe nach Verdienst vor.
Die Übergeberin hat hier also das Leistungsprinzip gewählt und Führung und Eigentum demjenigen anvertraut, der das Unternehmen am besten führen kann. Wird dieses Prinzip angewendet ist die Gefahr einer Fehlauswahl aufgrund der familiären Bindung sehr klein. Es wurde ja explizit die Fähigkeiten ins Zentrum gerückt und damit das in der Berufswelt allgemein als fair anerkannt Verdienstprinzip.
In diesem Szenario liegt Eigentum und Management in der Hand ein und derselben Person, nämlich Lara. Es gibt also kein Auseinanderfallen der beiden Funktionen und daher besteht auch kein Interessenkonflikt zwischen Eigentum und Führung. Einzig, falls die Übergeberin gestaffelt zunächst das Management und dann das Eigentum uübergibt, bestehen Interessenkonflikte. Diese können z.B. darin liegen, dass die Übergeberin nach Ausscheiden aus der operativen Funktion (und damit nach Wegfall des Lohnes) auf Dividendenausschüttungen angewiesen ist. Häufig werden KMU familieninterne Nachfolger so zur „Altersversicherung“ ihrer Eltern. Lisa hingegen könnte interessiert sein, den erarbeiteten Gewinn zu reinvestieren. Auch kann es sie frustrieren, dass sie selbst nicht von dem von ihr erarbeiteten Gewinn in Form von Dividenden profitiert. Dies könnte sie veranlassen, Annehmlichkeiten auf Kosten der Unternehmung zu konsumieren (z.B. hohe Spesenausgaben, teurer Firmenwagen), um eine Gegenleistung für ihre Leistung zu erhalten.
Fallbeispiel 4: Übergabe nach Gleichheit (Führung & Eigentum) *
Peter und Paul sind Brüder und arbeiten im Transportunternehmen ihrer Eltern. Peter ist zuständig für die Kundenakquisition, Paul ist mehr der technische, interne Umsetzer. Nach der Übergabe der operativen Verantwortung an die Nachkommen, arbeiten Peter und Paul als CO-Geschäftsleiter im Unternehmen. Gleichzeitig mit der Übergabe des Managements geben die Eltern Peter und Paul auch je 50 % des Eigentums am Unternehmen weiter. Peter und Paul werden in allen Belangen, die das Geschäft betreffen, gleichbehandelt, es liegt eine Übergabe nach Gleichheit vor.
Peter und Paul werden Eigentümer im Verhältnis 50:50 und teilen sich auch das Management des Unternehmens. In diesem Szenario ist das Risiko der sogenannten «Gegenauslese» (= Adverse Selection) grösser als in Fallbeispiel 3. Wenn alle Nachkommen im Unternehmen willkommen sind, besteht das Risiko, dass auch solche eingestellt werden, die nicht die notwendigen Fähigkeiten aufweisen. Das ist für das Unternehmen selbst nicht zwingend zweckmässig, da es Kosten verursacht (z.B. Lohn etc.), welche nicht durch Leistung wieder dem Unternehmen wieder zugeführt werden.
Fallbeispiel 5 Übergabe der Führung nach Leistung und Eigentum nach Gleichheit *
Der Möbelausstatter Enrico Columbini hat zwei Töchter, Lisa und Franziska. Franziska arbeitet als Innenarchitektin seit 10 Jahren im Unternehmen und ist bestens mit den Kunden vertraut. Lisa ist nicht berufstätig, sie hat eine Familie mit drei Kindern. Enrico uübergibt das Geschäft an Franziska, teilt jedoch das Eigentum der erfolgreichen Unternehmung beiden Töchtern zu je 50 % zu. Hier liegt eine Übergabe des Managements nach Verdienst und des Eigentums nach Gleichheit vor.
Aufgrund ihres Verdienstes wird Franziska das Management übergeben, während beide – Lisa und Franziska – das Eigentum zu gleichen Teilen erhalten. Da das Management nach dem Verdienstprinzip übergeben wird, ist das Risiko der «Gegenauslese» (= Adverse Selection: Dies bedeutet, dass das gemacht wird was man eigentlich nicht beabsichtigt hat) gering. Wenn das Eigentum immer weiter gemäss dem Prinzip der Gleichheit der nächsten Generation übergeben wird, erhöht sich zudem der Pool der möglichen Nachfolger. Das heisst mit jeder Generation erhöht sich die Auswahl an möglichen Nachfolgern, da entlang der der Geburtenrate die Anzahl der Eigentümer über Generationen zunimmt.
* Die Fälle stammen aus der Schrift Nr. 10 «Gerechtigkeit und Fairness in der Nachfolge» in der Reihe «St.Galler Nachfolge-Praxis», 2. Auflage 2019
Fragen
Die folgenden Fragen verdanken wir der Reihe «Gerechtigkeit im Alltag» des deutschen Südfunks (vgl. https://www.sr.de/sr/sr1/programm/sendungen/sr_1_spezial/themenwoche_2018_gerechtigkeit_im_alltag100~_seite-3.html#). Dort sind auch mögliche Antworten als Podcasts zu finden).
- Ist es gerecht, dass ein Damen-Haarschnitt teurer ist als ein Herren-Haarschnitt?
- Ist es gerecht, dass schöne Menschen es einfacher haben?
- Drei Enkel erhalten Geschenke zu Weihnachten. Ist es gerecht, wenn alle Geschenke gleich teuer sind, oder wenn man je nach Alter unterschiedlich viel ausgibt?
- Ist es gerecht, wenn ich mich vor Ort im Schuhladen beraten lasse und dann billiger im Internet einkaufe?
- Ist es gerecht, wenn ich manchmal – abhängig von meiner Laune – der Kioskbesitzerin Trinkgeld gebe und manchmal nicht?
- Ist es gerecht, dass jemand, der seinen Urlaub früher bucht, weniger zahlt, als jemand, der später bucht?
- Ist es gerecht, dass jemand, der schon länger in einem Betrieb arbeitet, mehr Geld bekommt für den gleichen Job als jemand, der erst seit ein paar Wochen oder Monaten dabei ist?
- Jemand hat einen Vertrag z. B. bei einem Pay-TV-Anbieter und muss mehr zahlen als ein Neukunde. Ist das gerecht?
- Ist es gerecht, dass in einem Betrieb bei einer Neuanstellung aufgrund der Frauenquote eine Frau den Job erhält, obwohl ein Mann gleich qualifiziert ist?
- Ist es gerecht, dass man im Internet bestellte Ware zurückschickt, auch wenn man weiss, dass diese wahrscheinlich vernichtet wird?
- Ist es gerecht, dass Mitarbeitende eher von der Arbeit gehen dürfen, weil sie ihre Kinder von der Kita abholen müssen, und auch bevorzugt werden, wenn es um Arbeit an Feiertagen geht bzw. dann nicht arbeiten müssen?
- Eine Mitarbeiterin hat durch Zufall ein Gespräch des Chefs mitbekommen, und weiss nun, dass eine Kollegin zum Ende des Jahres gekündigt wird. Darf sie es der Kollegin sagen?
- Eltern haben zwei Kinder. Eines muss unterstützt werden, weil es sonst nicht klarkommt. Ist es gerecht, wenn das im Erbe weitergeführt wird oder müssen beide Kinder gleich viel erben?
- Im Supermarkt macht eine neue Kasse auf. Ist es gerecht, wenn der Kunde hinter mir an mir vorbeistürzt und somit schneller dran ist?
- Wir sind mit Freunden im Restaurant. Am Ende soll die Rechnung geteilt werden. Ist es gerecht, wenn wir Veto einlegen, weil wir weniger gegessen haben?
- Vier Freunde gehen einkaufen. Da viel los ist stellt sich einer schon einmal an der Kasse an, während die anderen drei Waren suchen und dann vorgelassen werden. Ist das gerecht?